LNVL  -  Lëtzebuerger Natur- a Vulleschutzliga asbl
Veröffentlicht in Regulus (ISSN 1727-2122) 1990/3 S. 79-80

Unsere Vögel?

Auf einmal sind sie weg, "unsere" Sommergäste. Eines guten Tages im Spätsommer oder im Frühherbst fällt uns plötzlich - oft ein bisschen wehmütig - auf, dass die Hausrotschwänze, die Mehlschwalben, die Gartengrasmücken und all die anderen Vögel, mit denen wir den Sommer geteilt haben, jetzt nicht mehr da sind. Sie sind weggezogen, um die Wintermonate dort zu verbringen, wo das Nahrungsangebot günstiger ist als bei uns.
Dank den Beringern wissen wir inzwischen eine ganze Menge darüber, wo "unsere" Vögel die kalte Jahreshälfte verbringen. Wir wissen auch ungefähr, welche Strecke sie fliegen und wie lange sie brauchen, um ihr Ziel zu erreichen. Aber welche Risiken warten auf sie, wenn sie unsere Gärten, unsere Wälder, unsere Bauernhöfe verlassen? Wie hoch stehen die Chancen, dass die bei uns grossgewordenen Schwalben, Grasmücken usw. im nächsten Frühjahr zu uns zurückkehren?
Erstaunlich gut, kann man dazu nur sagen - d.h. unter allen gegebenen Umständen gut, denn die Strapazen, die Zugvögel über sich ergehen lassen müssen, sind gewaltig. Dagegen muss man sich vor Augen führen, dass die Zahl der Vögel, die sich im Herbst auf den Weg ins Winterquartier machen, fast unvorstellbar gross ist. Auf die schier unglaubliche Zahl von fünf Milliarden (= 5.000.000.000!) hat man diejenigen geschätzt, die im Herbst von Europa aus Afrika ansteuern. Da die meisten dieser Vögel "Breitfrontzieher" sind (siehe dazu den Artikel von Ed. Melchior), hat man ausgerechnet, dass über einen Zeitraum von sechs Wochen im Herbst nicht weniger als ca. 6.250 Zugvögel in jeder Nacht jeden Kilometer Küste zwischen Portugal und der Türkei passieren! Aber auch diejenigen, die es soweit gebracht haben, müssen noch manches überstehen, denn die Risiken, die solche Zugbewegungen mit sich bringen, werden jedes Jahr grösser. Die Gefahren der Überquerung des Mittelmeers und der Sahara-Wüste waren schon immer gross genug; zu ihnen haben sich jedoch in den letzten Jahren immer neue Probleme gesellt:

Die Hauptzugrouten der Weisstörche.
Fachleute gehen davon aus, dass von den fünf Milliarden Vögeln, die (noch) alljährlich den afrikanischen Kontinent anpeilen, nur etwa die Hälfte im nächsten Frühling bei uns wieder Sommerquartier bezieht. Eine solche Verlustrate braucht nicht unbedingt bedenklich zu stimmen, sind die entsprechenden Verlustraten bei unseren "Standvögeln" oft bedeutend höher. Schliesslich findet in jedem Winter eine natürliche Auslese statt. Bei den Zugvögeln waren gewaltige Verluste infolge Schlechtwetterbedingungen schon immer an der Tagesordnung. Was jedoch recht bedenklich stimmen muss, sind die Auswirkungen von menschlichen Aktivitäten auf die Überlebenschancen "unserer" Zugvögel. Bereits jetzt sind die verheerenden Folgen der Zerstörung der tropischen Regenwälder in Südamerika für die Zugvögel in Nordamerika offensichtlich. Auch "unsere" Sommergäste werden in Zukunft unter den Auswirkungen der katastrophalen Klimaveränderung zu leiden haben, sowie sie bereits jetzt teilweise unter den Folgen der Bodenerosion, der Überbeweidung und des Gifteinsatzes in der Landwirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent zu leiden haben.
Was die unweigerlich auf uns zukommenden Klimaveränderungen angeht, so kann augenblicklich keiner genau voraussagen, wie sich diese auf das Zugverhalten "unserer" Vögel auswirken werden. Wenn sich, wie angenommen, bestimmte Klimazonen bis zu mehrere Hundert Kilometer nach Norden verschieben, wird sich das Zugverhalten nicht weniger Arten dementsprechend verändern. Schon jetzt wird - zwar noch nicht in Luxemburg - zunehmend beobachtet, wie einige Arten wie Zilpzalp und Mönchsgrasmücke z.T. nicht mehr nach Süden ziehen, sondern den ganzen Winter in Westeuropa verbringen. Logischerweise stellt sich Zugverhalten nur dann ein, wenn trotz allen Risiken des Langstreckenzugs wenigstens für eine Teilpopulation bessere Überlebenschancen bestehen, als wenn sie im Sommerquartier bliebe und verhungern müsste. Sollten - wie es z.Z. den Anschein hat - die Winter bei uns immer milder werden, wird es wohl nicht lange dauern, bis auch bei einigen unserer Sommergäste das winterliche Nahrungsangebot so ist, dass es sich nicht mehr lohnt, die Risiken des Zuges auf sich zu nehmen. Übrigens, dass sich die Zuggewohnheiten einer bestimmten Art erstaunlich schnell umstellen können, beweisen kürzlich veröffentlichte Untersuchungen deutscher Ornithologen von der Vogelwarte Radolfzell. Demnach gilt es als wahrscheinlich, dass es lediglich ein paar Generationen dauern würde, bis das Zugverhalten (in diesem Fall der Mönchsgrasmücke) fast vollständig an neue, klimabedingte Veränderungen angepasst hätte. Mit einer dermassen schnellen Umstellung hatten die wenigsten Fachleute gerechnet.
Der Sumpfrohrsänger ist einer der wenigen Zugvögel, die von Luxemburg aus die östliche Zugroute wählen (und bei dem der Zug sich ungewöhnlich lang hinzieht!)
In diesem Artikel ist bewusst von "unseren" (also in Gänsefüsschen) Vögeln die Rede gewesen. Wir tendieren nämlich dazu, die Vögel, die bei uns den Sommer verbringen, tatsächlich als "unsere" zu betrachten, die dann die Wintermonate woanders verbringen, um im Frühling wieder "heimzukehren". Aber wie steht es z.B. um den Mauersegler, der knapp drei Monate, also gerade ein Viertel des Jahres, bei uns weilt? Gelten die Mauersegler trotzdem als "unsere" Vögel, oder sind es nicht eher afrikanische Vögel, die nur eine kurze Stippvisite bei uns machen? Und wem gehören etwa die Sumpfrohrsänger, die zwar von Mai bis August bei uns zu finden sind, bei denen sich aber der anschliessende Zug durch das südöstliche Europa und en östlichen Mittelmeerraum dermassen lange hinzieht, dass sie, kaum in Ostafrika angekommen, praktisch gleich wieder kehrtmachen, um sich wieder auf Wanderschaft zu begeben?
Dazu kann man eigentlich nur sagen: "Unsere" Vögel sind es tatsächlich - allerdings nur im erweiterten Sinne von "unsere aller" Vögel. Denn Zugvögel sollten sich überall zu Hause fühlen, sollten überall den gleichen Schutz geniessen. Dass dies momentan nicht der Fall ist, dürfte allzu offensichtlich sein. Zwar sind sie bei uns weitgehend geschützt (ihre Lebensräume allerdings leider nicht!), doch was hilft auch die beste und sorgfältigste Unterschutzstellung in einem Land, wenn unsere Sommergäste, sobald sie unsere Grenzen passiert haben, zum Freiwild erklärt werden? Nein, ein wirksamer Schutz für unsere Zugvögel hört bei weitem nicht an den jeweiligen Landesgrenzen auf. Hier drängt sich eine "Gesamtlösung" förmlich auf, damit unsere Zugvögel nicht nur bei uns, sondern auch auf ihrer ganzen Zugroute und in ihren Winterquartieren einen vollständigen Schutz geniessen.
Andere Arten - andere Sitten! Nur wer sehr gute Gründe dafür hat, nimmt die Risiken einer Sahara-Überquerung auf sich.
Ein Beispiel von vielen: erst kürzlich haben Wissenschaftler feststellen können, dass längst nicht alle Zugvögel - wie vorher angenommen - die Sahara-Wüste im ununterbrochenen Flug überqueren, sondern dass eine beträchtliche Zahl von ihnen in den kleinen Wüstenoasen Zwischenstation macht, um sich dort auszuruhen und nach Futter zu suchen. Auch diese unscheinbaren Kleinoasen sind also ein wichtiges Glied in der Kette, die es unseren Zugvögeln ermöglicht, den weiten Weg ins Winterquartier erfolgreich hinter sich zu bringen.
Der Vogelschutz ist also - wie der gesamte Natur- und Umweltschutz - ein internationales Anliegen, das wir nur im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit meistern können. Deshalb misst die LNVL der Arbeit des internationalen Rats für Vogelschutz grosse Wichtigkeit bei und beteiligt sich an dessen Arbeit.Mehr dazu in einem späteren Regulus-Heft.

David Crowther 


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