LNVL  -  Lëtzebuerger Natur- a Vulleschutzliga asbl
Veröffentlicht in Regulus (ISSN 1727-2122) 1975/15-16 S.324-332

Für oder gegen Zahlen?

Von Raymond Peltzer

There are two classes (of scientists), those who want to know, and do not care whether others think they know or not, and those who do not carry very much about knowing but care very greatly about being reputed as knowing.
Samuel Butler
In allen Zweigen der Naturwissenschaften wird heutzutage emsig mit Zahlen gearbeitet. Auch in den biologischen Wissenschaftszweigen haben sie sich schon seit geraumer Zeit breit gemacht — oft mehr als dem Amateur-Ornithologen lieb ist! Blättert man oberflächlich in manchen ornithologischen Fachzeitschriften herum, so hat man manchmal den Eindruck, einen Kursus angewandter Mathematik vor sich zu haben. Auch unsere Zeitschrift wird auf die Dauer kaum von diesem Trend verschont bleiben, was unseren Lesern vielleicht in den letzten Jahren schon aufgefallen ist.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären, was soll man von ihr halten, und welcher Wert liegt eigentlich in diesem »trockenen« Zahlenmaterial? Diese und ähnliche Fragen haben bestimmt manche Leser sich gestellt, die in der Ornithologie mehr ein subjektives Naturleben als eine objektive Wissenschaft sehen. Wir messen einer richtigen Einstellung unserer Leser zu diesen Problemen einige Wichtigkeit bei, denn allzugroß ist das Risiko, daß durch allzu rebarbative Zahlen die Verbindung zwischen spezialisierter Forschung und Allgemeinheit verlorengeht. Diese Verbindung wird ja zum guten Teil von »Supportern« — wie man unsere Abonnenten betiteln könnte — hergestellt!

Verglichen mit Physik und Chemie, zum Beispiel, sind die biologischen Wissenschaften recht »ungenau«, denn das Leben selbst ist so komplex, daß es sich vorerst nicht in präzise mathematische Formeln zwängen läßt. Auch war lange Zeit das mathematische »Handwerkszeug«, das man in der biologischen Forschung anwenden konnte, ziemlich bescheiden. Dieser Zustand hat sich aber mit dem Aufkommen neuer statistischer Verfahrensweisen stark geändert. Andererseits hat die zahlenmäßige Zunahme der aktiven Ornithologen eine Zunahme des verfügbaren Datenmaterials nach sich gezogen und außerdem eine größere Spezialisierung ermöglicht, deren Produkte sich besonders oft für statistische Auswertungen eignen.

Wegen der Komplexität der Vorgänge in der Natur und der Vogelwelt sind viele Wahrheiten und Gesetze nicht ohne weiteres ersichtlich, sogar dann noch nicht, wenn man eifrig Zahlenmaterial zusammengetragen hat. Hier hilft oft erst eine passende statistische Analyse, etwas Klarheit in das Wirrwarr des Zahlenmaterials zu bringen. Wir sehen also, daß Sammeln und Bearbeiten von Zahlenmaterial unumgänglich mit der Erarbeitung vieler neuer Erkenntnisse auf ornithologischem Gebiet verbunden ist.

Die aus dem Zahlenmaterial erarbeiteten Hypothesen und Schlußfolgerungen aber stehen und fallen mit der Genauigkeit dieses Zahlenmaterials! Dies ist so allgemein wahr, daß man eigentlich folgende Binsenwahrheit als oberstes Gesetz beim Begutachten von Zahlenmaterial oder von den daraus gewonnenen Schlußfolgerungen betrachten müßte: Man kann nie mehr aus Zahlen herausholen, als hineingesteckt wurde! Wollen wir aber diese Regel in der Praxis anwenden, um Zahlen und Schlußfolgerungen zu bewerten, so stoßen wir oft auf eine unüberwindliche Schwierigkeit: Weiß derjenige, für den die Zahlen bestimmt sind, was eigentlich drinsteckt respektiv wie sie entstanden sind? Ganz oft weiß er dies leider nicht, und er steht gewissermaßen vor einem Dilemma: Soll er den Autoren einfach auf ihren (mehr oder weniger guten) Namen hin Glauben schenken? oder soll er den Mangel an näheren Angaben als Schwäche der Autoren auslegen und deswegen ihre Resultate wertmäßig niedrig einstufen? Diesen Problemkreis anhand von geeigneten Beispielen tiefer zu durchschauen, soll unser nächstes Ziel sein.
Da wir dem Leser keine besonderen mathematischen Vorkenntnisse zumuten wollen, werden wir als praktische Illustration dieser Schwierigkeit aus der Fülle des kritisch analysierbaren Materials Avifaunen mit numerischen Bestandesangaben wählen, zumal wir hier luxemburgische Arbeiten mitvergleichen können (Hulten/Wassenich, 1960/61; Wassenich, 1971). Dem versierten Leser wird es jetzt schon aufgefallen sein, daß dieses Thema außerdem ein sogenanntes »heißes Eisen« ist, was den unvoreingenommenen und nichtbeteiligten Außenseiter aber nicht gleich abschrecken soll. Denn jeglicher »Zündstoff« läßt sich ja »entschärfen«, wenn man mit kühlem Kopf und der nötigen Logik zu Werke geht. Diese Avifaunen oder Artenlisten also beziehen sich gewöhnlich auf einen politisch begrenzten geographischen Raum — meist einen Staat — und sie enthalten pro Art die Zahl der Brutpaare, die in diesem Bereich zur Brut schreiten. Luxemburg und zwei Nachbarländer wurden ausgewählt, deren Probleme jeweils anders liegen und auch anders angefaßt wurden. So haben Deutschland (1964) und Belgien (1967) eine Klassifikation in 6 Stufen gewählt, Luxemburg (1960/61) und Belgien (1972) »genaue« Zahlen, für Belgien (1972) sind sie jedoch pro Provinz einzeln angeführt.

Daß man in diesen Werken, mit wenigen Ausnahmen, keine »genauen« Zahlen finden kann, scheint selbstverständlich (wenigstens für den unvoreingenommenen Leser). Aber lassen wir die Autoren selbst über die Genauigkeit ihrer Zahlen aussagen:

Hulten/Wassenich (1960/61): „ . . ., da man in der Mehrzahl der Fälle auf approximale Schätzungen und Berechnungen angewiesen ist. Selbst wenn mal in dem einen oder anderen Fall über- oder unterschätzt wird, . . ."
„Sicherlich mögen einzelne Zahlenwerte hypothetisch belastet und ergänzungsbedürftig sein; . . ."
„Dieser approximal errechnete Zahlenwert. . ."

Niethammer/Kramer/Wolters (1964): „Nicht ohne Bedenken machen wir den Versuch, die Häufigkeit der Vögel in Zahlen zu erfassen."
„Die Unzulänglichkeit solcher Angaben wird einem bewußt, . . ."
„. . . wobei wir uns im klaren darüber sind, daß solche Angaben in unserem größeren und vielgestaltigeren Land nicht den gleichen Grad an Genauigkeit erreichen wie bei unseren Nachbarn."

Commission pour l'avifaune belge (1967): „Les résultats sont évidemment assez imprécis, mais les catégories sont assez larges et bien adaptées à un pays de l'étendue du nôtre (nous avons repris sans les modifier les catégories établies pour l’Avifaune van Nederland), de sorte que, dans la plupart des cas, nous pensons que l'assignation à l'une d'entre elles est assez correcte. Pour les espèces peu nombreuses ou locales, les chiffres globaux étaient souvent connus de façon approximative et les estimations sont donc beaucoup plus précises."

Lippens/Wille (1972): „Quant aux chiffres cités ils sont exacts, pour certaines espèces, à quelques unités ou dizaines près (p. ex. pour les hérons, les courlis, quelques rapaces, etc.); pour d'autres espèces (p. ex. les pinsons, les étourneaux, les choucas, etc.) il s'agit d'une estimation globale . . .  Cette estimation est un ordre de grandeur moyenne . . .„
„Il est indubitable que pareille méthode engendre certaines erreurs mais en compensation on peut également affirmer que le grand nombre d'observations provoque nécessairement une surestimation ici et une sousestimation ailleurs, ce qui fait que la moyenne se rapproche de la réalité."

Wenn auch alle Autoren von Ungenauigkeiten reden, so ist darüber hinaus meist nicht viel Konkretes über den Grad dieser Ungenauigkeit in Erfahrung zu bringen. Wenn diese Zahlen also nicht genau sind, wie groß ist dann deren Ungenauigkeit? wäre der Leser berechtigt zu fragen, denn hierfür hält die Statistik Berechnungsmethoden bereit!
Wenn man also weder genaue Zahlen noch deren Ungenauigkeitsgrad angeben kann (oder will), weshalb veröffentlicht man dann diese Zahlen? Wäre es bloß eine Zeit-Mode, könnte man sie — vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet — ruhig fallen lassen. Aber hören wir uns die jeweiligen Autoren an, denn die müssen ja schließlich wissen, warum sie solche Zahlen bringen!

Hulten/Wassenich (1960/61): „... werden die Zahlenangaben im allgemeinen doch für spätere ökologisch bedingte Fluktuationen als brauchbare Vergleichsbasis herangezogen werden können, und dadurch zum rechtzeitigen Erkennen der unsere Vogelwelt bedrohenden Gefahren wertvoll sein."
„ . . .; immerhin ist aber der Grundstock zu weiteren quantitativen Studien nunmehr gelegt."

Niethammer/Kramer/Wolters (1964): „Dennoch halten wir Zahlenangaben, . . ., für besser und anregender als die sonst allein üblichen verschwommenen und wenig sagenden Worte »häufig«, »spärlich« usw."

Commission pour l'avifaune belge (1967): Keine Erklärung, warum sie Zahlen bringen.

Lippens/Wille (1972): „Cette estimation ... se veut plus proche de la réalité que les termes vagues jusqu'ici employés (p. ex. nicheur rare = de 50 à 250 couples; nicheur assez rare = de 250 à 2 500 couples, etc.)."
„Pour imaginer l'intérêt que cela représentera dans quelques années, il suffit de se figurer la valeur inestimable qu'aurait eu pareil recensement, même partiel ou approximatif, si Van Havre l'avait entrepris en 1928; pareil outil de travail nous manque cruellement à l'heure actuelle, . . ."
„Notre espoir est que ces chiffres puissent servir de base à des études plus fouillées et à des recensements exacts."

Grundsätzlich kann man also drei Beweggründe für deratige Zahlenangaben unterscheiden:

Daß die lange Zeit übliche Klassifizierung wie »häufig« oder »spärlich« nicht gerade einfallsreich war, liegt auf der Hand. Dieses Problem wurde jedoch einigermaßen ehrlich und elegant durch eine Bindung dieser Häufigkeitbezeichnungen an Zahlenmaxima und -minima gelöst. Ehrlich gegenüber dem Leser ist diese Methode, weil dieser sich ja von vornherein klar bewußt ist, daß es sich meist um grobe Schätzungen handelt, falls dies nicht sogar irgendwie ausdrücklich bestätigt wurde.

Was manche Autoren sich jedoch vorstellen, wenn sie meinen, ihre Zahlen könnten als Basis für genaue Zählungen benutzt werden, ist nicht klar zu ersehen. Denn nach Adam Riese fängt eine neue Zählung immer wieder bei Null an, andernfalls ist sie ja schon von eventuellen Fehlern belastet, bevor man überhaupt beginnt!

Trotz der vielen Arbeit, die manche Autoren in ihre Zahlen investiert haben mögen, ist es gar nicht so sicher, daß diese Zahlen zukünftigen Forschern so wertvoll erscheinen werden, wie es den jetztigen Urhebern vorschwebt! Nehmen wir ein fiktives Beispiel, um uns diese, auf den ersten Blick etwas ungeheuerliche Behauptung verständlicher zu machen, und springen wir in Gedanken gleich ins Jahr 2050. Im denkwürdigen Jahr 2050 mag es den Ornithologen Luxemburgs gelungen sein, mittels seriöser Forschungen und Bestandesaufnahmen, folgende Behauptung aufzustellen: „Die Zahl der Brutpaare der Sumpfmeise lag im Jahr 2049 mit 90% Wahrscheinlichkeit zwischen 3 850 und 4 280." Demgegenüber stünde die Veröffentlichung von Hulten/Wassenich (1960/61): „Der Bestand umfaßt ca 4 500 Brutpaare." Wie wäre wohl die Reaktion der Leute des 21. Jahrhunderts, die mit diesen beiden Zahlen konfrontiert wären? Es wäre ihnen wohl bekannt, was ihre eigene Zahl bedeutet, jedoch nicht, wie diejenige von 1960 entstanden wäre! Ein wissenschaftlicher Vergleich würde also wohl von vornherein schon ausgeschlossen, denn man kann bekanntlich nur vergleichbares Zahlenmaterial miteinander vergleichen, und um zu wissen, ob es vergleichbar ist, muß man die Entstehung der Zahlen jeweils möglichst genau kennen! Streng wissenschaftlich genommen wäre also mit besagten Zahlen nicht viel anzufangen. Weniger wissenschaftlich betrachtet aber auch nicht, denn dann wären in unserem Fall nämlich alle Schlußfolgerungen gestattet: Sowohl eine Zunahme als eine Abnahme oder ein Gleichbleiben der Population wären vertretbar, je nachdem was man noch alles in die Zahlen von 1960 hineininterpretieren würde; und das würde man ja dürfen, da es hierüber keine weiteren Anhaltspunkte gibt. Die Schlußfolgerung: „Der Bestand ist ziemlich konstant geblieben; die Autoren von 1960 hatten ihn wahrscheinlich überschätzt," wäre ebensowenig zu widerlegen wie etwa folgende: „Der Bestand ist allem Anschein nach etwa um 10% zurückgegangen." Logischerweise kann nur eine dieser Behauptungen stimmen; da man aber nicht weiß welche, müssen sie alle als suspekt angesehen werden, wodurch ihre Aussagekraft verschwindend klein wird. Man sieht also deutlich, daß die Zahlen in dieser Form durchaus keine so »brauchbare Vergleichsbasis« zur Feststellung von Fluktuationen sind, wie manche dies wahrhaben möchten! Gewiß, hätte die Schätzung des Jahres 2 049 einen Bestand von nur 500 Paaren ergeben, so wäre die Schlußfolgerung schon viel sicherer. Aber hätte es einer »genauen« Zahl von 1960 bedurft, um 2 050 die Feststellung einer »katastrophalen Abnahme« dieser Art machen zu können? Ganz bestimmt nicht! Daraus lernen wir, daß man, um große Bestandesschwankungen zu bemerken, keine »so genauen« Zahlen braucht, denn Fluktuationen größeren Ausmaßes merkt man sowieso — und leider meist erst, wenn es zu spät ist. Um dem entgegen zu wirken, müßte man auch kleinere Bestandesschwankungen (etwa 10—20%) mit ziemlicher Genauigkeit registrieren können — und dafür sind die jetzigen Zahlen leider zu ungenau und — was schlimmer ist — eben nicht vergleichbar ! Eine interessante Methode, den sogenannten »Common Bird Census«, welche derartigen Anforderungen gerecht wird, praktiziert man in England übrigens schon seit einiger Zeit. Eine Ausnahme in punkto Zahlen-Vergleichbarkeit gibt es dennoch, und zwar dann, wenn ein Autor seine eigenen Zahlen vergleicht. Muß er sie deswegen aber mit großem Hurra publizieren, lange bevor er überhaupt einen Vergleich machen kann ? In diesem Sinne würde es logischer erscheien, wenn er beide gefundenen Zahlen gleichzeitig in einer vergleichenden Studie bringen würde, womit sie ganz ihren Zweck erfüllt hätten.

Aus der Optik der Forscher des 21. Jahrhunderts gesehen haben wir bis jetzt vorausgesetzt, 1960 habe über besagtes Gebiet nur eine Publikation mit Zahlen bestanden, also auch nur eine Meinung, und dennoch trafen wir auf Schwierigkeiten. Wie aber wäre die Lage jener Forscher, wenn zwei oder mehr Meinungen aus jenen Zeiten überliefert worden wären? In Belgien zum Beispiel gibt es augenblicklich schon zwei (demnächst vielleicht drei?) Arbeiten mit Bestandesangaben . . .

Klammern wir hier ein, daß auf diesem Gebiet — entgegen dem, was man geneigt wäre anzunehmen — der erste, der Zahlen bringt, immer im Vorteil ist. Dies läßt sich leicht erklären: existieren erst einmal Zahlen, dann sind diese prinzipiell solange richtig, bis jemand beweist, sie seien falsch . . . und das wird in dieser Branche meist sehr lange dauern! Denn um die Falschheit einer Zahl beweisen zu können, müßte der »Gegner« ja erst einmal das tun, was der »erste« meist schon nicht getan hat (sonst wäre er ja bestimmt nicht der »erste« gewesen), nämlich ganz einfach eine gute Dosis Bestandesaufnahmen. Oft ist es auch so, daß der »erste«, bewußt oder unbewußt, die »Angriffsfläche« seines Zahlenmaterials so klein wie möglich hält, damit er gegebenenfalls ohne das Gesicht zu verlieren »gegnerische Attacken« überstehen kann. Und hat es ihn dann trotzdem einmal gehörig erwischt, na, dann hat er sich eben mal geirrt; schließlich ist irren ja menschlich! Und haben die Zahlen endlich eine Reihe von Jahren unangefochten ihr Dasein gefristet, dann kann wohl kaum jemand ihnen noch viel anhaben, denn nunmehr gibt es ein Bomben-Argument, um reell festgestellte Verschiedenheiten zu erklären: „Ja, damals, war der Bestand eben anders als heute!" lautet dann wohl die unanfechtbare Parole.

Der Forscher der Zukunft, dem aus einer gleichen Periode der Vergangenheit mehrere Schätzungen vorliegen werden, wird natürlich skeptisch werden, besonders wenn es Meinungsverschiedenheiten gab. Und diese gab es, sonst hätte es ja keine verschiedenen Versionen an Zahlen gegeben! Jeder hat natürlich recht oder ist zumindest von seinen Zahlen überzeugt (wie Lippens/Wille so richtig sagen: „ . .. opinion des auteurs au moment présent. . ."), sonst hätte er sie wohl nicht veröffentlicht. Entweder wird der kritische Forscher dann alle Zahlen als unzulänglich ansehen, oder er wendet sich jeweils denjenigen zu, über deren Entstehung am meisten Einzelheiten bekannt sind. Denn er muß annehmen, daß ein Autor der sich nicht scheuen mußte, seinen Zahlen mehr »Angriffsfläche« mit auf den Weg zu geben, eben besser fundierte Zahlen hat.

Hier stoßen wir auf die wichtigste Feststellung in punkto Zahlen überhaupt: es ist uns ganz klar geworden, daß eigentlich die Ausgangsbasis einer Globalzahl für alle jetzigen und vor allem zukünftigen Benutzer von erstrangiger Bedeutung ist, denn diese Basis allein ist — unter bestimmten Voraussetzungen — vergleichbar! Und gerade sie veröffentlicht man gewöhnlich nicht! Die richtigen (siehe oben) und weniger richtigen (Aufmachung, Druckereiunkosten) Ursachen sind schwer auseinanderzuhalten. Möglicherweise sind sich die »Zahlenmacher« des oben dargelegten Sachverhaltes gar nicht bewußt und handeln — für Wissenschaftler eigentlich zu naiv — in der Überzeugung, größeres geleistet zu haben, als wenn sie einfach ihr Basis-Material in eine banale Tabelle gesteckt hätten. Und doch würden sie mit ihrem Basis-Material, ganz gleich, wie bescheiden es auch sei, der Forschung bedeutend mehr Dienste leisten als mit einer Gott weiß wie entstandenen Globalzahl!

Bemerken wir hier kurz, daß eine solche Prozedur keine Utopie ist, und daß wir ein Werk kennen in dem sie großzügig angewandt wurde. Es handelt sich um »Die Brutvögel der Schweiz« (1962), ein Werk, das hervorsticht durch die geniale Einfachheit und Bescheidenheit seiner Zahlenangaben, das herausragt, wie eine Oase aus der Zahlenwüste unserer Epoche, und dessen Zahlenangaben noch lange benutzt werden, wenn diejenigen anderer Werke schon längst vergessen sind. Damit der Leser sich selbst ein Bild über die Vorzüge einer solchen Methode machen kann, seien nachstehend zum Vergleich die Angaben verschiedener Werke betreffend den Waldbaumläufer (Certhia familiaris) zitiert.

Schweiz. Levèque/Géroudet in U. Glutz v. Blotzheim (1962): „Densité de peuplement: Variable selon l'aspect du boisement et la proportion de troncs morts ou abîmés. Dans la chênaie près d'Allschwill BL et dans les peuplements de hêtre et de sapin près d'Aarau, de Baden et de Sempach 0,5 couples sur 10 ha (F. Amann, H. Suter, U. Glutz et al.); 1 couple sur 10 ha dans un peuplement de hêtres près de Bonfol, Ajoie (F. Amann) et dans la hêtraie à Molinia caerulea au versant sud du Jura près de Waldenburg (H. Wackernagel); 2 couples sur 10 ha dans la hêtraie à sapin près d'Heimenschwand BE (W. Finger) et dans la forêt de mélèzes de Fafleralp VS (A. Schifferli)."

Luxemburg. Hulten/Wassenich (1960/61): „Der Bestand ging durch die strenge Frostperiode von 1956 um schätzungsweise 40% zurück und auch heute scheint er mit ca 100 Brutpaaren noch nicht die Siedlungsdichte der Dreißiger Jahre erreicht zu haben."

Wassenich (1971): Bestand variiert zwischen 80 und 120 Paaren.
Die auf Anhieb von anderen luxemburgischen Ornithologen als falsch angesehene Schätzung konnte mittlerweilen von R. Schmitt und R. Schoos als um ein Vielfaches unterschätzt nachgewiesen werden !

Deutschland. Niethammer/Kramer/Wolters (1964): „Mäßig häufiger Brutvogel." (10000—100000 Paare)

Belgien. Commission pour l'avifaune belge (1967): „Nicheur annuel assez rare" (250—2 500 Paare).

Lippens/Wille (1972): prov. Luxembourg ± 1500, prov. Liège ± 700, prov. Namur ± 100, total ± 2300 couples.

Bemerkenswert in dem Werk aus der Schweiz ist auch die Wichtigkeit, die den Vegetationsverhältnissen im Zusammenhang mit Unterschieden in der Siedlungsdichte gewidmet wird. Mit Recht wird betont, daß zwei »Wälder« in punkto Siedlungsdichte verschiedener Vogelarten durchaus nicht vergleichbar sein müssen. Daraus ergibt sich natürlich, daß der Endverbraucher wenig mit hochgerechneten Zahlen anfangen kann, wenn er nicht weiß, ob und in welchem Maß die »Zahlenmacher« diesen Umständen Rechnung trugen.

Ideale Vergleichsbedingungen aber könnte man doch so einfach schaffen, wenn man die Grundangaben fein säuberlich in platzsparender, übersichtlicher Tabellenform wiedergeben würde. (Entschuldigen Sie, lieber Leser, wenn ich Ihnen hier meine Wunschträume vorprojiziere, aber ein Ornithologe darf doch auch einmal von einer besseren Welt träumen ?) Eine derartige Tabelle könnte etwa folgende Kolonnen enthalten:

Gewiß gäbe es noch etliche technische Detail-Probleme zu lösen. So könnte man zum Beispiel oft wiederkehrende Beschreibungen wie Vegetationsform und Arbeitsmethode verschlüsseln und die Bedeutung dieser Schlüssel in der Einleitung bringen, was die Tabellen vereinfachen würde. Damit hätten wir alles, um jederzeit wertvolle Vergleiche anstellen zu können. Man könnte ruhig Jahre später an genau denselben Örtlichkeiten nachprüfen, ob die Vegetation noch ungefähr der beschriebenen entspricht, und dann mit genau der gleichen Arbeitsmethode eine neue Bestandesaufnahme machen, und beide wären ganz sicher vergleichbar, und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen wären wissenschaftlich gesichert, und . . . War dies nicht das Ziel, das viele Avifaunisten verfolgten, und an dem sie ahnungslos vorbeisausten, versessen auf »Mega-Zahlen«, mit denen, außer ihnen selbst, niemand viel anfangen konnte?

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage »Für oder gegen Zahlen?« dürfte uns jetzt nicht mehr schwer fallen. Selbstverständlich sind wir für Zahlen, wenn sie transparent genug sind, um deren präzise Bewertung zuzulassen, und so beschaffen sind, daß sie den Zweck, für welchen sie gedacht waren, auch wirklich erfüllen können. Wenn wir auch wenig Einfluß auf die Forscher im Ausland haben, so wollen wir hier in Luxemburg doch in Zukunft versuchen, diese »Binsenwahrheiten« in die Praxis umzusetzen, damit die nächsten Generationen von Ornithologen sich ihre wertvollen Haare nicht ausreißen müssen wegen unserer »Mega-Zahlen-Mode«.

P.S. Wenn wir hier über die Handhabung von Zahlen in verschiedenen Werken einige Bedenken angemeldet haben, so soll das nicht heißen, diese Werke seien in jeder Hinsicht negativ zu beurteilen. Im Gegenteil: Das meiste darin Veröffentlichte ist wissenschaftlich durchaus brauchbar und interessant, und sie ergänzen das Bücherangebot auf dem Gebiet der Avifaunen.

Anschrift des Verfassers: Peltzer Raymond, 62, rue Zenon Bernard, Esch-Alzette

Zitierte Literatur:
Glutz von Blotzheim, U. N. (1962): Die Brutvögel der Schweiz — Aarau
Hulten, M., Wassenich, V. (1960/61): Die Vogelfauna Luxemburgs
— Luxbg Lippens, Comte L., Wille, H. (1972): Atlas des oiseaux de Belgique et d'Europe occidentale — Tielt

Niethammer, G., Kramer, H., Wolters, H.E. (1964): Die Vögel Deutschlands. Artenliste — Frankfurt/Main
Wassenich, V. (1971): Die Brutvögel Luxemburgs in Zahlen und Graphik. REGULUS Bd. 10, p. 267—280
— (1967): Avifaune de Belgique. GERFAUT t. 57, p. 1—108


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