LNVL  -  Lëtzebuerger Natur- a Vulleschutzliga asbl
Veröffentlicht in Regulus (ISSN 1727-2122) 2002/3 S. 4-6

Der Teichrohrsänger – Vogel des Jahres 2002

Wetten, dass – abgesehen von unseren Ornithologen – nicht einmal ein Prozent der 15.000 Mitglieder unserer Vereinigung diesen Vogel bewusst je gesehen oder gehört haben! Und doch lebt er sein verstecktes Dasein noch an einigen schilfbewachsenen Orten hierzulande, wenn auch sehr viel seltener als in früheren Zeiten.

« Nomen est omen »

Wieso kommt ein so heimlich lebender Vogel an einen solch ausgefallenen Namen? Mit Star und Fink und Rabe sind wir doch einfacheres gewohnt. Die ersten Namen, die zur Bezeichnung von Menschen benutzt wurden, (heutige „Familiennamen“) setzen sich oft aus beschreibenden Elementen wie Aussehen, Beruf oder Aufenthaltsort zusammen (die Vorfahren von Herrn Müller waren ganz wahrscheinlich weder Schmied noch Fischer ...). Weshalb hätte man es bei Vogelnamen anders machen sollen? Demnach müsste „Teichrohrsänger“ dem Wortinhalt entsprechend einen Vogel benennen, den man im Rohr (gemeint ist Schilfrohr) am Teich singend antreffen kann, was auch genau zutrifft. Der Ursprung des heute gebräuchlichen französischen Namens – Rousserolle effarvatte – ist eine farbliche Beschreibung, wobei rousserolle wohl mit roux verwandt ist und effarvatte eine Umformung von fauvette darstellt, die sich wiederum auf die Farbe fauve beziehen müsste. Nimmt man frühere französische Namen hinzu, so gewinnt man zusätzliche Informationen: Bec-fin des roseaux (Frankreich, 19. Jh.) zeigt auf einen feinen Schnabel hin, was für insektenfressende Kleinvögel charakteristisch ist, und roseaux auf seinen typischen Lebensraum. Auch der wissenschaftliche Name enthält beschreibende Elemente: Acrocephalus scirpaceus könnte man frei als „spitzköpfiger Riedbewohner“ übersetzen. Dem entspricht der von Naumann 1820 zitierte deutsche Trivialname „Spitzkopf“. Der englische Name ergibt eine akustische Beschreibung: Reed Warbler, frei übersetzt etwa: „der im Schilf trillert“. Die Holländer, die ja viel Schilf und demnach auch viele Schilfbewohner beherbergen, haben ihn Kleine karekiet getauft. Das entspricht zwar einer sehr guten Beschreibung seines Gesangs, der Ursprung hat aber wohl eher etwas mit „carex“ (botanischer Name der Segge) zu tun, genau wie der spanische Name carricero. Die Luxemburger stehen mit ihrem Klenge Jäizert nicht weitab, wobei das Wort „klenge“ darauf hinweist, dass es wohl auch eine ähnliche „große“ Art geben müsste, die es denn auch gibt, nämlich den ihm in allem ähnlichen Drosselrohrsänger. Man hat es also hier gleich mit einer ganzen Gattung von Vögeln zu tun: Rohrsänger = Rousserolle = Acrocephalus. Einige luxemburgische Namen die J. Morbach zitiert sind Hiddemëcher (etwa Korbmacher, da sein Nest in Struktur und Form einem geflochtenen Körbchen gleicht), Weidepäifert (pfeift im Weidendickicht) und Weideschlëffer (schlüpft durchs Weidengebüsch). Kurioserweise findet man diese Namen für das „deutsche Luxemburg“ (sic!) auch schon in der zweiten Auflage des Naumann von 1904, jedoch für eine ähnliche Art, den Sumpfrohrsänger, als Diminutiva: Weidenpeiferchen, Weideschlefferchen.
Leider lässt sich diese Methode zur Informationsfindung nicht bei allen Vogelarten so einfach anwenden, ja ein Vogelname kann sogar irreführend sein: so lebt z.B. eine Mönchsgrasmücke nicht nur in Klostergärten, nicht im Gras, sondern im Gebüsch, und eine Mücke ist es auch nicht! Beim Teichrohrsänger jedoch geben die verschiedenen Namen des Vogels ohne viele Umschweife treffende Kenntnisse über den Vogel, wie Gefiederfarbe, Form, Stimme, Ernährungsweise, Nest und Aufenthaltsorte.

Hightech-Kinderstube

Angesichts der senkrechten Struktur der Vegetation, in der die Rohrsänger leben und brüten, lässt ein Nest sich nicht in der bei Singvögeln üblichen Art und Weise konstruieren: waagerechte Zweige zum Draufsetzen gibt es hier nicht, und ins Wasser bauen wie die Schwimmvögel geht bei nichtschwimmenden Singvögeln wohl auch nicht. So wurde aus dem Nest ein Körbchen, das geschickt zwischen mehreren Schilfhalmen aufgehängt ist, gebaut aus Grashalmen und klebrigen, jedoch elastischen und reißfesten Spinnweben. Auch einem Sturmwind, der die Schilfhalme biegt und schüttelt, muss der Bau noch standhalten. Damit die Eier oder Jungvögel unter solchen Bedingungen nicht aus dem Nest herausfallen, ist der Napf des Nestes tiefer als bei anderen Arten: mit einer Napftiefe von etwa 5 cm und einem Eidurchmesser von 14 mm entspricht das einer 3,5-fachen Eigröße. Alles in allem ist es eine widerstandsfähige Konstruktion aus Schilfrispen, Grashalmen und Spinnweben: auch Monate später im Winter kann man oft noch fast intakte Nester aus der Brutzeit finden. Gibt es in einem passenden Biotop keinen Schilf, kann der Rohrsänger sein Nest gelegentlich auch an andere senkrechte Pflanzenstengel hängen, so z. B. an Weidenzweige wie Befunde von J. Morbach längs der Sauer zeigen.
Bei einer Studie an Rohrsängern war mir aufgefallen, dass gelegentlich ein vormals ausgemachtes Teichrohrsängernest bei einer späteren Kontrolle spurlos verschwunden war. Dies ist insofern seltsam, als bei anderen Vogelarten von verlassenen oder zerstörten Nestern immer zumindest noch Überreste zu finden sind. Durch Markieren des Materials einiger Nester konnte später eine Erklärung gefunden werden: Teichrohrsänger benutzen ganz einfach das Material eines verlassenen Nestes zum Bau eines neuen Nestes in der Nachbarschaft!
Der Teichrohrsänger ist eine der Wirtsvogelarten des Kuckucks. Bei uns wurden nur im Ramsar-Schutzgebiet von Remerschen bisher junge Teichrohsängerkuckucke gefunden. Ein Kuckucksweibchen ist lebenslang auf eine Wirtsvogelart geprägt, und legt immerhin 10-20 Eier in einer Brutsaison, jeweils in ein anderes Nest. Bei einer Studie im nahen Lothringen, wo Teichrohrsänger und Kuckuck häufig sind, konnte ich 5 parasitierte Nester finden, welche jedoch allesamt vom Teichrohrsänger verlassen wurden. Es ist bekannt, dass er empfindlicher auf Störungen durch den Kuckuck reagiert als manch andere Wirtsvogelarten.

Nachtflug ohne Radar und Kompass

Wie die meisten Kleinvogelarten, die in Afrika überwintern, sind die Rohrsänger Breitfrontzügler, die nachts ziehen. Sie können sich anhand der Sterne auf ihrer genetisch vorprogrammierten Flugroute orientieren. Tagsüber können die Vögel dann etwas ruhen und sich für die Weiterreise stärken.
Der Teichrohrsänger ist eine Vogelart, die hierzulande seit Jahrzehnten eifrig vermittels Beringung studiert wird. Der Fang zu Beringungszwecken ist nicht allzu schwierig, da diese Art ziemlich eng an die wenigen Schilfvorkommen gebunden ist, und weil die derzeitig am meisten benutzten Fanganlagen für Kleinvögel in Schilfbiotopen besonders geeignet sind. So wundert es nicht, dass der Teichrohrsänger – trotz seiner relativen Seltenheit als Brutvogel hierzulande – mit über 12.000 beringten Exemplaren die sechsthäufigste Art in der Beringungsbilanz Luxemburgs ist. Das kommt unter anderem daher, dass die nordöstlich von uns beheimateten Populationen auf dem Herbst- und Frühjahrszug an geeigneten Stellen bei uns rasten, was uns wohl vorübergehend Gäste in tausendköpfiger Anzahl beschert. Wegen der Arealausdehnung des Teichrohrsängers nach Norden, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts festgestellt wurde, müsste man bei uns in Zukunft eigentlich mit einer noch größeren Anzahl von Durchzüglern nordischer Populationen rechnen können. Bisher gab es z.B. Kontakte (siehe Karte) von oder nach Norden zwischen Luxemburg und Schweden (13), Dänemark (3), Polen (6), Deutschland (15), Niederlande (3) und Belgien (10). Nach Süden wurden Frankreich (3) und Spanien (4) durchzogen. Diese Leichtgewichtler können manchmal beträchtliche Zugleistungen vollbringen: ein erstjähriger Teichrohrsänger brauchte nur 4 Nächte für seine Tausendkilometer-Reise von Schweden nach einer Schilf-„Oase“ in Luxemburg (Ring 8V51122). Anderen Forschern gelang gar der Nachweis einer Leistung von 450 km in einem Tag!

Teichrohrsänger können ausnahmsweise bis 12 Jahre alt werden. Bei uns wurde etliche Male ein Alter von 5-6 Jahren durch Beringung festgestellt. Auch zeigen die Kontrollfänge beringter Teichrohrsänger, dass diese Art sowohl geburtsortstreu als brutortstreu ist. Wenn man bedenkt, dass sie genauestens ihren Geburtsort nach der 8000 km langen (hin und zurück) Reise aus Westafrika wiederfinden, kann man nur staunen über die außergewöhnliche Leistung ihres Orientierungssinnes.

Wie viele andere Arten, wurde diese Vogelart wohl früher auch in unseren Gegenden gegessen. „Ihr Fleisch ist eine wohlschmeckende Speise, aber man tötet sie deshalb, wie billig, nicht absichtlich“ wusste Naumann 1820 noch zu schreiben. Die Meinung, alles Essbare unbedingt essen zu müssen, die damals schon in Mitteleuropa im Abklingen war, gilt aber heutzutage noch in manchen Mittelmeerländern: dort gehören auch Kleinvögel verschiedenster Art leider immer noch zur Speisekarte. Die zwei einzigen Teichrohrsänger, die uns aus dem Mittelmeerraum zurückgemeldet wurden, landeten in spanischen Kochtöpfen!

Geschichte eines „Avizids“

Oder: Anleitung zur sicheren Ausrottung seltener Vogelarten.
Schließlich ist man darauf gefasst, dass es mit einem „Vogel des Jahres“ eine besondere Bewandtnis auf sich hat, sei es auch nur, dass er sehr selten wäre. In längst vergangenen Zeiten mag diese Art an allen unseren Dorfteichen sowie schilf- und weidenbewachsenen Bächen vorgekommen sein. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts jedenfalls bestätigt A. de la Fontaine die Art noch als „généralement répandue“. Hundert Jahre später wurde die Anzahl der Brutpaare von Hulten/Wassenich (1960) auf maximal 400 Paare landesweit angesetzt. Vielleicht hätte diese Schätzung für die dreißiger Jahren noch zutreffen können, zu obigem Zeitpunkt war es aber sicher schon überschätzt, vor allem deshalb, weil diese Art durch Mangel an Biotopen im Ösling nicht vorkam. Im Rahmen der Erhebungen zum Atlas der Brutvögel Luxemburgs konnten zwischen 1976 und 1980 dann nur noch in 19 Quadraten (von insgesamt 129!) Brutnachweise für den Teichrohrsänger erbracht werden.

Dieser Krebsgang wurde nicht durch eine direkte Verfolgung der Teichrohrsänger hervorgerufen, sondern durch eine systematische Zerstörung der Lebensräume, auf welche er angewiesen ist. Auf den Menschen bezogen könnte man dies mit einer Kriegsstrategie der „verbrannten Erde“ gleichsetzen. Oder sollte das biblische Zitat „macht euch die Erde untertan“ vielleicht in diesem Sinne interpretiert worden sein? Jedenfalls schien der Gier zu einer Bodennutzung bis hin zum letzten Quadratmeter kein Einhalt geboten. Mit zunehmenden Bachbegradigungen, Kanalisierungen und Drainagen, mit Zuschütten von sumpfigen Niederungen, deren Zupflanzen mit Fichten oder Pappelwäldern und nicht zuletzt Flurbereinigungen wurde der Lebensraum dieser Art progressiv so stark eingeengt, dass diese vormals bei uns wohl relativ häufige Vogelart immer seltener wurde. Hervorzuheben bleibt, dass in diesem Fall nicht nur der Teichrohrsänger verschwand, sondern auch noch viele andere ebenso bedrohte und seltene Tier- und Pflanzenarten!
Von den vier einheimischen Rohrsängerarten ist der Sumpfrohrsänger die einzige, die bisher noch nicht bedroht ist. Das verdankt sie ihrer geringeren Spezialisierung: als wenig anspruchsvolle Art genügen ihr zum Brüten schon einige Quadratmeter Brennesseln und Gebüsch an einem nassen Graben. Dies erklärt auch, dass der Sumpfrohrsänger im Brutvogelatlas der 70er Jahre noch in 56% der Quadrate brütend angetroffen wurde. Um unsere beiden anderen Vertreter der Rohrsängerfamilie ist es aber sehr schlecht bestellt.
Der Drosselrohrsänger war als Brutvogel schon im 19. Jahrhundert praktisch nur mehr an der Mosel anzutreffen, wo seine Brutplätze dann um 1964 bei der Moselkanalisierung endgültig verschwanden. Jahrzehnte später wurde er wieder brütend im Ramsar-Schutzgebiet von Remerschen angetroffen, wo heute die 2 einzigen Paare Luxemburgs noch (über)leben können.
Noch schlechter erging es dem Schilfrohrsänger: im 19. und 20. Jahrhundert konnte an den letzten günstigen Stellen im Alzettetal noch eine Restpopulation überleben. In den sechziger Jahren verschwand er von seinem letzten Brutplatz im Schifflinger Brill, nachdem dieser drainiert und mit Pappeln aufgeforstet worden war! Und seitdem gilt er in Luxemburg als ausgestorbene Brutvogelart.
Als Durchzügler kommen hierzulande noch gelegentlich der Seggenrohrsänger vor, sowie ausnahmsweise (bisher 1x in Luxemburg) der Buschrohrsänger, der in der UdSSR beheimatet ist.

Rettung in extremis!

Der heutzutage vielgepriesenen und weltweit angestrebten Biodiversität wurde also vor noch nicht allzu langer Zeit gehörig der Garaus gemacht. Bevor es zu einem Requiem für eine dritte Rohrsängerart bei uns kommen konnte, hatte die LNVL sich aufgerafft und durch die Stiftung Hëllef fir d'Natur mit Hilfe derer Spender das zu diesem Zeitpunkt noch einzig Mögliche unternommen, nämlich den Ankauf der oft kümmerlichen Restbestände von Feuchtgebieten. Die auf diese Weise von einer direkten Bedrohung befreiten Parzellen konnten je nach Zustand entweder so belassen werden oder mussten – mit zusätzlichem Aufwand – wieder einigermaßen renaturiert werden. Anschließend erhielten endlich auch einige Feuchtgebiete durch die Bestrebungen des Umweltministeriums einen gesetzlichen Schutz. Hierzu gehören die Reservate Brill bei Schifflingen, Bauch bei Monnerich, Stréissel bei Bettembourg, ein Teil des Röserbanns und des Baggerweihergebiets bei Remerschen, allwo man die Teichrohrsänger jeweils in einigen Paaren wieder antreffen kann. Weitere Feuchtbiotope stehen leider immer noch auf der Warteliste, und es ist zu befürchten, dass sie nicht alle ihre Unterschutzstellung erleben werden.

Bis man unsere Nationalhymne „Wou d'Uelzecht durech d'Wisen zéit“ wieder sinnentsprechend singen kann, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Momentan passt die Bezeichnung „überdüngte Kultursteppe“ wohl besser für diese Wiesen, und sowohl Lauf als Inhalt der Alzette sind alles andere als „naturnah“. Projekte, wie z.B. das LIFE-Projekt zur Renaturierung des oberen Alzettetals, könnten dem Teichrohrsänger – und einigen weiteren bedrohten Vogelarten - wieder zu seiner vormaligen Verbreitung verhelfen. Ob dies auch für eine einmal ausgestorbene Lokalpopulation einer sehr ortstreuen Art, wie der Schilfrohrsänger, trotz wieder vorhandener Biotope noch der Fall sein kann, wird uns die Zukunft zeigen. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine faire, vorurteilsfreie Zusammenarbeit aller Betroffenen und sicherlich auch das Überwinden immer noch präsenter, althergekommener Überlegungen.
Aufklärungsarbeit zu den Themen Ökologie und Biodiversität ist auch heute bei allen Schichten und Altersstufen der Bevölkerung mehr denn je vonnöten, wenn sich nicht andauernd die Irrtümer früherer Zeiten wiederholen sollen. Einer Organisation wie der LNVL bleibt – außer dem wissenschaftlichen Studium der Natur - also noch so mancher uneigennütziger Beitrag zu leisten.

Raymond Peltzer


Karte mit Fernfunden:
Fernfunde der in Luxemburg beringten oder kontrollierten Teichrohrsänger (Anzahl pro Land). Man erkennt klar die nach Südwesten orientierte Zugroute. Unsere Sumpfrohrsänger hingegen wandern in südöstlicher Richtung nach Afrika, von wo auch einer aus Kenia zurückgemeldet wurde.

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