Artikel in: Flade, M. (1994): Die Brutvogelgemeinschaften Mittel- und Norddeutschlands. S. 198-199

Exkurs:
Das Elend der Landwirtschaft
und die gesellschaftliche Unfähigkeit, zu handeln


 
Nach jahrzehntelangem Leugnen der verheerenden Auswirkungen der Landwirtschaftspolitik und der in allen Bereichen negativen Agrarentwicklung beschlossen 1989 die Agrar-, Umwelt- und Raumordnungsminister der Länder erstmalig, eine gemeinsame Bestandsaufnahme zur Situation der Landwirtschaft zu erarbeiten und die Realität überhaupt zur Kenntnis zu nehmen; ferner sollten Lösungsansätze aus der Krise konzipiert werden. Anlaß waren die anhaltend hohen Agrarüberschüsse in der EG. In dem 1992 den Ministerkonferenzen zur Bestätigung und zum Beschluß vorgelegten Bericht wird die Situation erstmals weitgehend ungeschönt beschrieben (UMK/AMK/ MKR-ARBEITSGRUPPE 1992):
-    "Die Agrarausgaben im EG-Haushalt sind weiter kräftig angestiegen" (von 63 Mrd. DM 1989 auf ca. 80 Mrd. DM 1992).
-    "Sehr stark angewachsene Überschußbestände bei Getreide und Rindfleisch mußten mit hohen Exporterstattungen auf Drittlandsmärkten abgesetzt werden und haben seit Jahren bestehende handelspolitische Konflikte und entwicklungspolitische Probleme verschärft."
-    "Trotz Einführung mengenbegrenzender Maßnahmen ... ist die Erzeugung schneller gestiegen als der Verbrauch, der bei verschiedenen Produkten sogar rückläufig ist."
-    "Der Anteil der landwirtschaftlichen Erwerbstätigen hat von 8,1 % (1970) auf 3,0% (1990) abgenommen" (alte BRD).
-    "Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ist von 1970 bis 1991 um 487.600 Betriebe auf 595.500 zurückgegangen (-2,2 % pro Jahr). Die jährliche Abnahmerate hat im Vierjahreszeitraum 1987 bis 1991 deutlich zugenommen (-3,4 % pro Jahr)."
-    In den neuen Ländern erfolgte im Zuge der Umstrukturierung ein drastischer Abbau der Beschäftigtenzahl von 850.000 (30. 9. 89) auf rd. 300.000 (Ende 1991).
-    "Die Zahl und der Anteil kleiner und mittlerer Betriebe nimmt besonders stark ab." Die "Wachstumsschwelle" liegt in SH und NDS inzwischen bei 75 ha!
-    "Der Strukturwandel wird sich in diesem Jahrzehnt nicht nur deutlich verstärken, sondern aufgrund der anstehenden EG-Reformen möglicherweise auch qualitativ neue Aspekte aufweisen ..."
-    "Die intensive Landbewirtschaftung hat Artenvielfalt, Lebensgemeinschaften und Lebensräume durch Stoffeinträge, Bewirtschaftungsmethoden sowie durch Verkleinerung, Zersplitterung und Beseitigung naturbetonter Biotope und Landschaftsbestandteile in erheblichem Maße beeinträchtigt. Die Folge war u.a. ein starker Rückgang wildlebender Pflanzen- und Tierarten ..."
-   An besonderen Problemen für den Naturschutz werden u.a. genannt:
"Verlust von durch Landbewirtschaftung entstandenen Biotopen durch intensivere Bewirtschaftung oder Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzung; Gefährdung insbesondere nährstoffarmer Biotope durch Eintrag von Stoffen; Verminderung der Artenvielfalt durch Verengung der Fruchtfolgen."
-    Die Intensivierung und Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion haben zu erhöhten Gewässerbelastungen beigetragen: Eintrag von Nitrat und Bioziden ins Grundwasser;
Beeinträchtigung der Oberflächengewässer durch Nährstoffverfrachtung (Wasser, Wind);
Anreicherung des Niederschlagswassers mit Ammonium-Stickstoff aus Massentierhaltungen.
-    Im Bereich des Bodens kommen hinzu:
Erosionsprobleme; stoffliche Belastungen; Bodenverdichtungen.
Die zusammenfassende, unvollständige Wiedergabe der offiziellen Bestandsaufnahme charakterisiert die desolate Situation, die in der öffentlichen Diskussion im wesentlichen seit Mitte der 1970er Jahre bekannt ist. Es ist also bekannt, daß die bisherige Agrarpolitik dazu geführt hat, daß
-   die Landwirtschaft der Hauptverursacher des Artenrückgangs wurde;
-   Gewässer und Böden gefährdet und verschmutzt werden;
-   immer weniger Menschen von der Landwirtschaft leben können, insbesondere die kleineren und mittleren Betriebe sterben;
-   ungesunde Nahrungsmittel produziert werden;
-   dies alles nicht aus der Not heraus weitergeschieht, die notwendige Menge Nahrungsmittel zu erzeugen, sondern teure und kaum mehr zu bewältigende Überschüsse entstehen.

Auch sind seit langem Auswege aus diesem Irrwitz vorgeschlagen worden, z.B.:
-   Kopplung von Subventionen an extensive und umweltfreundliche Wirtschaftsweisen, insbesondere Förderung des biologisch-organischen und biologisch-dynamischen Landbaus;
-   Hohe Besteuerung von Mineraldüngern und Bioziden (Umsetzung des Verursacherprinzips);
-   Hohe Zölle für Agrar-lmporte;
-   Anhebung der (nicht kostendeckenden) Verbraucherpreise;
-   Öffentlichkeitsarbeit/Aufklärung, z.B. Kampagnen für den Biologischen Landbau ähnlich z.B. der Anti-Aids-Kampagne.
Es gibt demnach eine seit längerem katastrophale Entwicklung auf der einen und dazu passende Lösungsansätze auf der anderen Seite. Was hindert die Gesellschaft daran, die entsprechenden Lösungsansätze konsequent zu verfolgen? Hier sind im wesentlichen drei Erklärungen denkbar:

  • Kollektive geistige Umnachtung: Politiker, Verwaltung und Öffentlichkeit sind mental und/oder psychisch nicht in der Lage, die bedrohliche Entwicklung wahrzunehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen (ein einzelnes Individuum, das sich so verhalten würde, müßte ohne Zweifel in die Psychiatrie eingewiesen werden).
  • Versagen des marktwirtschaftlichen Systems: Profitstreben von Chemieindustrie und Agrobusiness sowie subjektive Egoismen einflußreicher Personen können systematisch und gegen jedes bessere Wissen eine vernünftige Entwicklung verhindern, weil sich die eintretenden Schäden (noch) nicht in betriebs- und volkswirtschaftlichen Bilanzen niederschlagen; marktwirtschaftliche Steuerungselemente und -mechanismen versagen. Die Schäden werden auf die Gesellschaft abgewälzt, während die Gewinne privatisiert sind.
  • Exportbilanzen: Ein Ausgleich der Außenhandelsbilanz besonders mit den armen, agrarstrukturell geprägten Ländern, in denen Arbeitskräfte billig und Umweltschutzauflagen unbedeutend sind, kann nur über den massiven Import landwirtschaftlicher Produkte erreicht werden, wenn diese "unterentwickelten" Länder unsere Industrieprodukte im Gegenzug kaufen sollen. Etwas vereinfacht läuft dies auf eine weitgehende Einstellung der landwirtschaftlichen Produktion in Mittel- und Westeuropa hinaus, weil sie zu teuer ist und indirekt die Finanzkraft der ärmeren Länder auf dem Weltmarkt schwächt.
  • Ein Zusammenwirken aller drei Ursachenkomplexe ist im vorliegenden Fall wahrscheinlich.